Aktion / Bericht
Wer Zuhause pflegt, läuft Gefahr, bald selbst ein Pflegefall zu werden!
Der totgeschwiegene Dauernotstand in der Alten- und Krankenpflege war Thema des vom ÖDP-Kreisverband und der -Kreistagsfraktion organisiert und zu welchem die Bevölkerung nach Weibhausen eingeladen wurde.
Das Elend mit der Pflege ist ein stilles, unpopuläres Thema, was auch und gerade in Wahlkampfzeiten von den aktuell politisch Verantwortlichen, gerne verdrängt wird. Claus Fussek und Cordula Zickgraf plädieren bei einer ÖDP-Veranstaltung in Weibhausen für einen menschenwürdigen Umgang mit den pflegebedürftigen Heimbewohnern und dem Pflegepersonal, durch bessere Arbeitsbedingungen.
Um auf die Sorgen und Nöte der Bewohnerinnen und Bewohner sowie des Personals von Pflegeheimen aufmerksam zu machen und mögliche Auswege aus der Misere aufzuzeigen, hatte die ÖDP zwei hochkarätige Referenten eingeladen – zum einen Claus Fussek, den seit vielen Jahren bekanntesten Pflegekritiker Deutschlands, der erst jüngst von Gesundheitsminister Holecek mit dem „Weißen Engel“ für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, und zum anderen die Krankenschwester und Autorin Cordula Zickgraf, die beruflich und privat mit der Thematik aufs Beste vertraut ist.
Zu Beginn der Veranstaltung, die vom Kreisvorsitzenden Georg Huber (Waging) moderiert wurde, stellten sich kurz die regionalen ÖDP-Kandidaten für die bevorstehende Wahl vor. Wolfgang Königbauer (Traunstein) und Peter Sturm (Laufen) kandidieren für den Landtag, Andreas Huber (Traunstein) und Dr. Ute Künkele (Petting) für den Bezirkstag (bei dieser Wahl gibt es keine 5 %-Hürde), vor.
Cordula Zickgraf berichtete u.a. dass Sie in ihrer Ausbildung zur Krankenschwester in einer Klinik Aranka, einer siebzehnjährigen Krebspatientin begnegnete und sagte weiter, dass sich zwischen ihnen eine kurze, intensive Freundschaft, entwickelte, über die sie in ihrem später verfilmten Buch Ich lerne leben, weil du sterben musst berichtet hat.
Als Cordula Zickgraf Claus Fussek und seine ebenso engagierte Frau Ute kennen lernte, gewährte ihr der gelernte Sozialarbeiter Einblick in Briefe, die er erhalten hatte: Es waren Hilfeschreie von total erschöpften und verzweifelten Pflegekräften und pflegenden Angehörigen, die Horrorszenarien schilderten. Zickgraf konnte das nachvollziehen, als einige Jahre später ihr Lebensgefährte zum Pflegefall wurde: „Das nach außen hin so schicke Heim war innen eine Anstalt des Grauens. Sechsmal in fünf Jahren hatte die Leitung dieser Einrichtung gewechselt. Die Investoren waren nur an der Rendite interessiert – wie lange die Bewohner ihrer Häuser in ihrem Kot lagen, war ihnen egal. Einmal lag mein Freund nach einem Sturz aus dem Bett stundenlang auf dem Fußboden, ehe jemand kam und nach ihm sah. Er hatte eine Hirnblutung erlitten, nach der keine Gespräche mehr mit ihm möglich waren.“ Viele der ständig wechselnden Hilfskräfte sprachen kein Wort Deutsch. „Eines Nachts wurde mein Freund geschlagen, seine linke Gesichtshälfte war blau. Da es eine Zeugin gab, handelte die Heimleitung sofort, zeigte den Zeitarbeiter an und schickte ihn zum Teufel. Ob der Mann jemals zur Rechenschaft gezogen wird, ist zweifelhaft – wahrscheinlich eher nicht, denn wir brauchen doch so dringend Pflegekräfte … Von der Geschäftsführung im fernen Norddeutschland haben wir nie etwas gehört.“
Auch Claus Fusseks Beitrag ist alles andere als ein dröges Aneinanderreihen von Fakten. Er brennt ein leidenschaftliches rhetorisches Feuerwerk ab, schildert unglaubliche Fälle, bürokratische Absurditäten und ein allgemeines Klima der Angst: „Achtzig Prozent meiner Informanten sind Pflegekräfte, die mich bitten, ja nicht ihre Namen zu nennen. Alle haben sie Angst vor den Menschen, denen wir unsere Angehörigen anvertraut haben.“ – die Informantin vor der Geschäftsleitung oder möglichem Mobbing seitens der KollegInnen, die Patienten und ihre Angehörigen vor Sanktionen gegen ihre Lieben. („Bitte beschwert euch nicht, dann wird alles noch schlimmer.“)
Es gebe viele, sehr viele hervorragend ausgebildete Schwestern und Pfleger, die ihren Beruf liebten und als Berufung empfänden. Und es gibt auch Heime, in denen vieles noch gut funktioniert. Aber wenn eine Pflegekraft im Nachtdienst 30 Patienten betreuen müsse – oder auf der Intensivstation im fünf statt früher zwei, wie eine anwesende Krankenschwester ergänzt –, arbeite sie am Limit und könne die Ansprüche, die sie an sich selber stelle, nicht mehr erfüllen. Der Personalmangel treibe wahre Sumpfblüten: „In heißen Sommern werden immer wieder dehydrierte Menschen ins Krankenhaus gebracht, weil sich im Heim niemand findet, der den Patienten gegebenenfalls beim Trinken hilft (was auch erst gelernt sein will). „Die überflüssigen Klinikaufenthalte und Transportkosten werden hingenommen.“ Auch wenn vernachlässigte Bettlägerige einen Dekubitus entwickelten, landeten sie im Krankenhaus. „Schlechte Pflege verursacht Milliardenkosten.“ Von der „großen Politik“ erwartet sich Fussek keine entscheidenden Reformen mehr, da habe er, wie er freimütig zugibt, resigniert. Aber er sieht eine Chance im stärkeren Engagement der Kommunen und der Angehörigen. Letzteren rät er, sich mehr einzumischen, notfalls sogar in den Heimen bestimmte Pflegeaufgaben selbst zu übernehmen – „und das obwohl sie damit Hilfsdienste leisten, für die sie und die Patienten mit ihren Überweisungen von 2500.- Euro pro Monat aufwärts längst bezahlt haben – aber es geht nicht anders.“ Eine der ersten Forderungen des Referenten lautet: Wir brauchen ein angstfreies Arbeitsleben für Pflegekräfte und mutige Angehörige, die rechtzeitig auf Missstände aufmerksam machen. Die Gemeinden sollten von der Einrichtung unabhängige, geschulte Ansprechpartner bereitstellen, denen gegenüber alle Betroffenen angstfrei reden könnten und die zudem in der Lage seien, Wege durch den Irrgarten der Pflegebürokratie aufzuzeigen. Auch plädiere er dafür, jeden einzelnen Fall individuell zu sehen – es komme schließlich auch vor, „dass die Alten vor ihren Erben beschützt werden müssen. Nicht alle waren früher immer lieb und nett zu ihren Angehörigen.“ Doch auch diese Menschen hätten am Ende ihres Lebens Anspruch auf eine menschenwürdige Behandlung. Der Referent regte an, Angehörige und Pflegepersonal mit dem Hospizwesen vertraut zu machen und in den Heimen Hospizabteilungen zu etablieren. Den Pflegenden riet er, Solidargemeinschaften zu bilden und enger mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. „Nur gemeinsam seid ihr stark und könnt unter Umständen doch etwas bewirken.“
In der Diskussion meldete sich ein älterer Herr zu Wort, der sich seit Jahren selber um seine pflegebedürftige Frau kümmert. Er schilderte einen unfassbaren Spießrutenlauf durch den Behördendschungel und berichtete von Unterstützungsanträgen, die monatelang unbearbeitet blieben, um schließlich „nach Aktenlage“ (also ohne individuelle Prüfung) abgelehnt zu werden. Dabei entstand der Eindruck, Menschen, die wegen der exorbitanten Kosten oder um ihren Lieben das Heim zu ersparen, ihre Angehörigen zu Hause selber pflegen, seien selber nur Rädchen im Getriebe eines falsch programmierten Systems. Am Ende ist oft ihre eigene Gesundheit ruiniert – die Pflege gebiert Pflegebedürftige.
Peter Sturm informierte die Anwesenden Gäste, dass die ÖDP sich dafür einsetzt, dass Alten- und Pflegeheimen nicht von renditeorientierten Trägern (keine Aktiengesellschaften oder Finanzinvestoren) betrieben werden.
Bruno Siglreitmaier forderte die, mit der gegenwertigen Pflegesituation berechtigt, Unzufriedenen auf, diesmal die ÖDP-Kandidaten zu wählen, denn die ÖDP nimmt keine Firmen-/ Konzernspenden an, d.h. sie können und werden unabhängig von fragwürdigen an sie herangetragenen Interessenvertretern zum Wohle der Bürger handeln.
Georg Huber dankte den Referenten und Diskussionsteilnehmern und beendete eine Veranstaltung, die dem Publikum sicher noch lange im Gedächtnis verbleiben wird.
__22.09.23_Si. B.